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Die Spezialisierung in der Wissenschaft bringt bei allen Erfolgen
unleugbar dennoch die ernste Gefahr eines Verlustes der Mitte mit
sich. Die eizelnen Fachdisziplinen erscheinen als stark voneinander
isoliert, ja kaum mehr harmonisierbar. Auch im Bereich der
eigentlichen Glaubenswissenschaft sind umfassende Entwürfe sehr
selten. Vielschreiber sind meist hoffnungslose Dilettanten oder
verzichten sogar grundsätzlich auf den Anspruch von
Wissenschaftlichkeit (wie K. Rahner). [36]. Agnostizismus und
Kritismus sind ein weiterer Grund für die verbreitete Flucht in
Nebenfragen und Suche nach isolierten und unangreifbaren Biotopen.
Bei Lulls Lehre sind formale Eigenarten seiner "Ars magna" und
inhaltliche Besonderheiten im Grunde beachtenswert als der
einheutliche Gesamtentwurf. [37]. Die Einheitlichkeit und
Winderspruchsfreiheit in der Seinsordnung und die Tatsache, daß die
Seinsbereiche zueinander im Verhältnis der Analogie und Harmonie
stehen, war ihm lebeding bewußt und bildet die Voraussetzung seiner
eigenartigen Formalistik die er auf allen Wissesgebieten anwenden
wollte. [38]. Seine heuristiche Methode diente ihm dazu, ein
einheitliches Gedankengeäude zu errichten, das keine unverbundenen
Elemente mehr enthielt. So konnte er auch den göttlichen Gesamtplan
der Welt eher nachzudenken versuchen. Da Gott mit seinen Attributen
Anfang und Ziel der Schöpfung ist, sollte er auch in der
Erkenntnisordnung an erster Stelle stehen, vor allem bei der
Erklärung der Glaubenswahrheiten. So bemühte sich Lull
systematisch, die Anwendungsmöglichkeiten seiner relativ wenigen
theologischen Grundprinzipien zu finden, zu prüfen und durch das
Ergebnis wieder die Grudgedanken zu bestätigen. Seine Gedanken
haben vielfach zunächst den Charakter von "theologischen
Hypothesen", die zwar für ihn im Glauben fest begründet sind,
aber auch dem Gesprächspartner mit Hilfe der Gnade einsichtig
gemacht werden können, wenn die wissenschaftliche Einordung in das
einheitliche Gesamtsystem gelungen ist.
Bei einem Mann mit vielfältigen Interessen besteht immer die
Gefahr, daß über der Fülle des Materials und der notwendigen
Eizelbeobachtungen die innere Struktur der Dinge nicht mehr klar
erkannt wird. Lullus ist ihr nicht erlegen; die Einheitlichkeit und
Klarheit seiner Gedankenführung läßt ihn geradezu als Gegensatz
eines Positivismus oder Empirismus späterer Zeit erscheinen. Den
Weg des Aufstiegs zu Gott von den sinnlich erfahrbaren Dingen
schätzt er wohl, hält ihn aber für ungenügend, da ihm die "via
descensus" weit wichtiger erscheint: Weil Gott in der Seinsordnung
der erste und größte Partner ist, deshalb muß auch in der
Erkenntnisordnung der Weg welcher von ihm und seinen höchsten
Prinzipien ausgeht, den Vorrang haben. [39].
Im "Liber de Deo maiore et Deo minore"[40]. findet eine
Diskussion statt zwischen einem gläubigen Christen und einem
ungläubigen Juden und einem Sarazenen. Dabei geht es um die Frage
nach dem grösseren und überlegeneren Gottesbild. Trinität,
Inkarnation und Altarssakrament folgen nach Lulls Auffassung aus dem
ganzheitlichen und überlegeneren Gottesbild des Christen und
begründen wiederum auch das Vorrecht dieses Gottesbildes.
Alles göttlichen Grundwürden (dignitates) in ihrer Gesamtheit und
ihrem Miteinander sind für ihn von Bedeutung. So bringt er im
"Liber de civitate mundi"[41]. , dem letzten seiner Messinenser
Werke, in dichterischer Form seine Argumentation: Die göttlichen
Grundwürden oder Attribute treten als Personen auf und verhandeln
und beraten miteinander. Auch z. B. die Gerechtigkeit Gottes,
seine Heiligkeit und Tugendkraft verlange es, ihn als dreifaltigen
Gott anzuerkennen. Von besonderer Bedeutung sind die misericordia,
gratia, pietas und humilitas; sie sorgen dafür, daß das Gerich
aufgeschoben wird und die göttlichen Tugendkräfte in der gottfremden
Welt neu wirksam werden können. Für Lull sind also nicht nur
einige, sondern letztlich alle diese in dichterischer Form als
Personen auftretenden Attribute Gottes maßgebend für die
Glaubensverkürdigung.
Kennzeichnend für seine Methode ist seine Weise des
Ganzheitsdenkens. Systematisch sucht er alle kombinationen zu
finden, alle Möglichkeiten abzutasten, wie ein Problem durch die
Beziehungen zu den göttlichen Grundwürden beleuchet werden kann.
Manchmal wird die Abhandlung nach den Kombinationsregeln seiner Ars
sogar etwas schematisch und langatmig; viele kleine Einzelschritte und
Verknüpfungen in endloser Reihe; so sehr, daß einige Abschreiber
ungeduldig geworden sind. Doch liegt all dem ein heuristisches
Prinzip zugrunde, das durchas nicht unfruchtbar ist; die feste
Überzeugung, daß zwischen allen göttlichen dignitates und jeder
Glaubenswahrheit eine ontologische Beziehung besteht, die es im
Licht des Glaubens aufzufinden gilt. Lull sucht somit in der
Offenbarung und Theologie nicht nur Stätzen für einige augewählte
Lieblingsbegriffe, sondern müht sich systematisch um Vergleich,
Erklärung und Gegenüberstellung mit allen Gotteseigenschaften.
Konsequenter noch als Richard von St. Viktor und Bonaventura
versteht er nicht nur einige, sondern alle Attribute Gottes als
Transzendentalbegriffe und Axiome in einer neuartigen Kombinatorik.
Jede einzelne Erkenntnis sieht Lull also sogleich in ihrer
Verbindung zu einer Vielzahl anderer Grundwahrheiten; sie kann
Ausgangspunkt und Ziel eines vertieften Verständnisses der gesamten
Glaubenswissenschaft werden. Die methodischen Fragen, mit denen er
systematisch an einen Gegenstand herangeht, helfen zur leichteren
Auffindung der Wahrheit. Er versucht dabei nicht, alles in ein
vorgegebenes rationalistisches Schema einzuordnen, sondern sieht in
den dignitates Dei die Exemplarusrsachen und universalen
Gestaltungskräfte.
Besonders hebt er gegenüber den Musulmanen die Gleichwesentlichkeit
aller göttlichen Grundwürden hervor, die jeweils ausnahmslos ihre
actus intrinceci haben müßten, ohne welche sie von Ewigkeit her
"otiosi" wären; die musulmnischen Theologen von Tunis wollten dies
nur für Wissen und Wollen Gottes konzedieren. [42].
Speziell auch gegen die islamische These von der Ewigkeit der Welt
argumentiert er mit dem Hinweis auf die Gleichheit und
Ausgeworgenheit der göttlichen Grundwürden: Wenn die Ewigkeit
Gottes eine unendliche geschaffene Dauer hervorgebracht hätte, dann
müßten seine Gutheit, Größe usw. eine entsprechende unendliche
Wirkung hervorbringen - wasjedoch unmöglich sei (Disputatio fidelis
et infidelis, Paris 1287-1289; Declaratio Raimundi per
modum dialogi edita contra aliquorum philosophorum et eorum sequacium
erroneas opiniones et damnatas ab episcopo Parisiensio,
1297-1299). [43].
So ist ihm auch daran gelegen, die Kompatibilität und Harmonie von
Prädestination und Freiheit zu verdeutlichen (z. B. im Liber de
disputatione fidelis et infidelis[44]. ) - im Gegensatz zu den
Extremen im Islam. Dort leiteten viele von der Gott zugeschriebenen
grenzenlosen Macht den musulmanischen Fatalismus ab, dem aber auch
andere, antideterministische Strömungen entgegenstanden. [45].
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