5. Denkerische Selbständigkeit und Einheit mit dem Glauben und Leben der Kirche

Wenn jemand große Selbständigkeit, Vitalität und Eigenart des Denkens gerade auf religösem Gebiet besitzt, doch keine Gelegenheit zu gründlicher theologischer Durchbildung hat, so ist er in erhöhtem Maße der Gefahr eines Abgleitens in Irrtum oder gar Häresie ausgesetzt. Lullus wußete jedoch seine gewaltige persönliche Initiative zu vereinen mit rückhaltloser Unterwerfung unter die Kirche. Einleitungs- und Schlußformeln vieler Werke bringen dies klar zum Ausdruck. Zeit seines Lebens geriet er niemals in einen Konflikt mit dem Lehramt; nie versuchte er die krichliche Autorität dort, wo sie in erster Linie zuständing war, zu umgehen oder dem Geist der kirchlichen Bestimmungen entgegenzuhandeln. Seine großen Ziele - die Bekehrung der Mohammedaner und der Kampf gegen den Averroismus - waren auch diejenigen der Kirche. Nicht ohne und nicht neben, sondern nur durch die kirchliche Autorität wollte er diese Ziele erreichen; von ihr ließ er sich die Richtung für seine persönliche Aktivität zeigen. Somit haben ihn auch fanatische Antilullisten später wohl des Irrtums und der inopportunen Methode (wie z. B. der Kanzler J. Gerson) aber weniger der formellen Häresie bezichtigt.

Aber die Rechtgläubigkeit eines Theologen ist noch nicht identisch mit der Rechtgläubigkeit seiner Theologie. Die Ortodoxie einer Theologie darf nicht nur aus dem guten Willen ihres Urhebers, sondern muß auch nach ihrem sachlichen Gehalt beurteilt werden. Die langjährige Prüfung seiner Werke hat ergeben, daß seine Theologie zwar zeitbedingt ist, daß aber bei richtiger Interpretation ein vernünftiger Zweifel auch an seiner materiellen Rechtgläubigkeit nicht bestehen kann, [25]. trotz zeitweiliger späterer Verurteilungen eizelner Sätze, z. B. durch den Inquisitor Nicolaus Eymericus OP.