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Wenn jemand große Selbständigkeit, Vitalität und Eigenart des
Denkens gerade auf religösem Gebiet besitzt, doch keine Gelegenheit
zu gründlicher theologischer Durchbildung hat, so ist er in erhöhtem
Maße der Gefahr eines Abgleitens in Irrtum oder gar Häresie
ausgesetzt. Lullus wußete jedoch seine gewaltige persönliche
Initiative zu vereinen mit rückhaltloser Unterwerfung unter die
Kirche. Einleitungs- und Schlußformeln vieler Werke bringen dies
klar zum Ausdruck. Zeit seines Lebens geriet er niemals in einen
Konflikt mit dem Lehramt; nie versuchte er die krichliche Autorität
dort, wo sie in erster Linie zuständing war, zu umgehen oder dem
Geist der kirchlichen Bestimmungen entgegenzuhandeln. Seine großen
Ziele - die Bekehrung der Mohammedaner und der Kampf gegen den
Averroismus - waren auch diejenigen der Kirche. Nicht ohne und
nicht neben, sondern nur durch die kirchliche Autorität wollte er
diese Ziele erreichen; von ihr ließ er sich die Richtung für seine
persönliche Aktivität zeigen. Somit haben ihn auch fanatische
Antilullisten später wohl des Irrtums und der inopportunen Methode
(wie z. B. der Kanzler J. Gerson) aber weniger der formellen
Häresie bezichtigt.
Aber die Rechtgläubigkeit eines Theologen ist noch nicht identisch
mit der Rechtgläubigkeit seiner Theologie. Die Ortodoxie einer
Theologie darf nicht nur aus dem guten Willen ihres Urhebers,
sondern muß auch nach ihrem sachlichen Gehalt beurteilt werden. Die
langjährige Prüfung seiner Werke hat ergeben, daß seine Theologie
zwar zeitbedingt ist, daß aber bei richtiger Interpretation ein
vernünftiger Zweifel auch an seiner materiellen Rechtgläubigkeit
nicht bestehen kann, [25]. trotz zeitweiliger späterer
Verurteilungen eizelner Sätze, z. B. durch den Inquisitor
Nicolaus Eymericus OP.
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