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Llull ist klassisch und modern zugleich. Modern, weil er in seiner
Konzeption vom Subjekt ausgeht. Klassisch, weil er alles von der
Perspektive des Seinsaktes aus betrachtet.
Gehen wir zurück zur «Figur des Seienden». Die «Materie» der
Ars lulliana, wenn man so sagen darf, ist das gesamte verstehbare
Sein. Ihre «Form» ist die reale Wahrheit. Damit impliziert die
Ars, daß das Sein verstehbar ist und daß die menschliche Vernunft
es begreifen kann. Le Myésier verdeutlicht: Wie ein gesundes Auge
den Gegenstand vor ihm sieht, und ihn nicht nicht sehen kann, so wird
die menschliche Vernunft, wenn sie in der rechten Verfassung ist, in
einem ebenfalls recht verfaßten Körper, mit Notwendigkeit die
Wahrheit ihres Gegenstandes -- die propositiones per se notae --
erkennen, sofern der Gegenstand in ihr gegenwärtig ist, und wird sie
nicht nicht erkennen können. Die Ars lulliana trachtet also danach,
wahre Aussagen abzuleiten. Le Myésier stellt überdies heraus,
daß die Wahrheit der Aussagen von der realen Wahrheit des
extramentalen[8] Gegenstandes abhängt und daß es letztlich diese
Wahrheit des Seins ist, welche die Ars interessiert.
Die Erkenntnistheorie, die der Ars zugrunde liegt, ist somit
realistischer Natur. Sie läßt sich in diesen wenigen Worten
zusammenfassen: Was sich zunächst in der menschlichen Vernunft
befindet, ist nicht der Gegenstand selbst, sondern sein Abbild oder
eine intelligible Spezies. Darauf wird die Vernunft durch einen
weiteren Akt -- den eigentlichen Akt des Verstehens oder Erkennens
im engeren Sinne -- mit ihren Begriffen die res obiectata
ausdrücken[9] bzw. manifestieren. Der ausgeprägte Begriff weist
auf den Gegenstand zurück. Der Begriff ist ein zweites Zeichen,
nämlich ein Zeichen für das erste Zeichen, welches die intelligible
Spezies ist. Dieser Prozeß setzt voraus, daß das Denken, sofern
die intelligible Spezies unmittelbar vom Gegenstand -- der res
obiectata -- stammt, diesen Gegenstand erreichen kann.[10]
Zwei Dinge sind es, die bei der Betrachtung der «Figur des
Seienden» ins Auge springen. An erster Stelle die Tatsache, daß
sie ganz auf dem Sein aufbaut. Konkreter: auf dem Seinsakt. Die
Geschöpfe gehen aus Gott hervor gemäß einem
Ähnlichkeitsverhältnis vom Größeren zum Kleineren. Von den
erhabensten, reinen und leuchtenden Geschöpfen bis zu den weniger
erhabenen, reinen und leuchtenden, wie den Körpern. Llull baut
kein Universum aus Wesenheiten auf. Wie jeder echte Philosoph
verlangt er danach, das konkrete und empirische Seiende zu erkennen.
Er betrachtet daher das esse mundi, in das er auch die möglichen
Seienden einbettet.[11] Über dieses Universum realer
Wahrheiten, die von Gott bis zu den geringsten Körpern reichen,
ergießt sich die Wißbegierde des menschlichen Geistes. Was wundert
es, daß der Mensch, ein vernunftbegabtes Geschöpf, diese Dinge
eifrigst zu verstehen begehrt?[12]
An zweiter Stelle betont Llull das Erkennen als Akt. Wann immer
wir erkennen, erkennen wir durch einen Akt, aber nicht immer erkennen
wir durch Tätigkeiten.[13] Die Tätigkeit ist zwar auch ein
Akt, aber der Mensch vollzieht auch solche Erkenntnisakte, die
keine Tätigkeiten sind. Was erkennen wir durch geistige
Tätigkeiten? Gegenstände. Das durch einen Akt in der geistigen
Tätigkeit Verstandene ist der intentionale Gegenstand. Das ist das
begrifflich faßbare Erkennen.
Das Erkennen, das ein Akt, aber keine Tätigkeit ist, d.h.,
das Erkennen, das die Tätigkeit übersteigt, übersteigt den
Gegenstand. Verfügen wir über solche Erkenntnisse? Ja. Wie
verwirklichen wir sie? Zunächst mit den erworbenen Fähigkeiten,
den Habitus. Diese sind auch Akte, aber höherer Natur als die
Tätigkeiten. Sie konstituieren eine Art habitueller Seinsweise.
Was erkennen wir mit den Habitus? Unser eigenes individuelles Sein
und das Sein der anderen Dinge, welche wir durch die Tätigkeiten
erkennen. Das Selbstbewußtsein unserer eigenen Existenz und die
Existenz des Extramentalen sind also habituelle Erkenntnisse.
Unter die Erkenntnisse, die zwar Akte, aber keine Operationen
sind, muß auch jene Erkenntnis eingereiht werden, die dem Seinsakt
selbst innewohnt: Gott, ipsum esse subsistens, ist in sich
bestehendes Erkennen. Und auch dem Seinsakt des Menschen, esse
hominis, wohnt eine gewisse Erkenntnis inne, obwohl der Mensch den
Seinsakt nicht von sich selbst her hat, wie etwa Gott.
Verglichen mit der Erkenntnis, die durch eine Tätigkeit
verwirklicht wird, sind die nicht operativen Erkenntnisse einem
höheren Niveau zuzurechnen. Die aus der Ars lulliana gewonnene
Erkenntnis ist eine Erkenntnis, die auf allgemeinsten Prinzipien
beruht, womit sie auf einem habituellen Niveau liegt. Llulls Ars
will ihren Benutzer zu einem überlegenen Habitus der Wissenschaft
führen.
In den letzten Fragen des Arbor scientiae zu De fructibus arboris
quaestionalis, genauer in De quaestionibus habitus huius scientiae,
läßt Llull keinen Zweifel daran. Zunächst zum Habitus der
Erkenntnis, den man aus den Prinzipien erhält:
Quaestio: Monachus a Raimundo quaesiuit, utrum haec Arbor
scientiae sit generalis. Solutio: Dixit Raimundus, quod haec
Arbor scientiae generalis est, quia est de generalibus principiis,
secundum quod in suis radicibus apparet, et est generalis, quia est de
sexdecim arboribus, quae generales sunt ad omnem habitum scientiae.
Das gesamte Thema des Arbor ist nur darauf gerichtet, den Habitus
der Wissenschaft zu erwerben:
Quaestio: Subiectum huius Arboris scientiae, quod est? Solutio:
Subiectum huius arboris est illud, per quod humanus intellectus
acquirit uniuersalem habitum sciendi.
Die Methode schließlich, um den Habitus zu bewahren, ist die
folgende:
Quaestio: Habitus huius scientiae, cum quo conseruari potest?
Solutio: Imaginando frequenter et recolendo arbores speciales huius
arboris generalis conseruari potest generalis habitus scientiae, quam
homo habere potest per ipsum.[14]
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