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Erkenntnis, die nicht zur Liebe wird, bleibt steril, und Liebe,
die keine Orientierung na der Offenbarung hat, ist blind. Dies gilt
insbesondere auch von der Gotteserkenntnis und-liebe. Ebenso wie der
Glaube zielt auch die theologische Wissenschaft nich auf die eine oder
andere isoliet gesehene Seelenkraft, sondern auf ihr harmonisches
Miteinander. Diesen Aspek findet man bei Ramon Lull in
einzigartiger Weise sowohl in der lebendigen Verwirklchung wie in der
theologischen Reflexion.
Intellekt und Wille nennt er in der Regel gleichgewichtig miteinander
(zusammen mit der memoria). Von der Gottesschau erwartet er nicht
nur die Erfüllung der intellektiven Möglichkeiten, sondern die
aller Seelenkräfte.
Die Gottesliebe ist Maßstab, Voraussetzung und Ziel einer recht
geordneten Nächstenliebe. Die unmittelbare und selbstvergessene
liebende Begegnung mit Gott hat somit den Vorrang vor jeder
vorwiegend selbstbezogenen oder pragmatischen Hinwedung zu Gott und
vor jeder Form der Nächstenliebe. Lull hat diesen Gedanken oft
Ausdruck gegeben, in besonders eindrucksvoller Weise im Liber de
amico et amato. Die Ganzhingabe an Gott, ohne jede egoistische
Reserve, gibt dem Leben die Mitte. [5]. Er hat den Vorrang der
uneigennützigen Liebe zu Gott so klar betont, [6]. daß der
Inquisitor Nicolaus Eymericus hier - allerdings zu Unrecht - sogar
eine Einseitigkeit finden wollte, die der späteren Lehre
Fénélon's von der "amour pur" nahekomme. [7].
Heute ist die von Lull so plastisch veranschaulichte Lehre der
mittelalterlichen Theologie vom Vorrang der Gottesliebe bei einzelnen
Theologen, ja sogar in einzelnen Ländern in Vergessenheit geraten;
Neomodernisten wollen als sittliche Grundhaltung nur noch die soziale
Liebe gelten lassen und das Christentum auf die horizontale Dimension
einer philantropischen Religion reduzieren.
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