2. Harmonische Einheit der Erkenntnis - und Willenskräfte

Erkenntnis, die nicht zur Liebe wird, bleibt steril, und Liebe, die keine Orientierung na der Offenbarung hat, ist blind. Dies gilt insbesondere auch von der Gotteserkenntnis und-liebe. Ebenso wie der Glaube zielt auch die theologische Wissenschaft nich auf die eine oder andere isoliet gesehene Seelenkraft, sondern auf ihr harmonisches Miteinander. Diesen Aspek findet man bei Ramon Lull in einzigartiger Weise sowohl in der lebendigen Verwirklchung wie in der theologischen Reflexion.

Intellekt und Wille nennt er in der Regel gleichgewichtig miteinander (zusammen mit der memoria). Von der Gottesschau erwartet er nicht nur die Erfüllung der intellektiven Möglichkeiten, sondern die aller Seelenkräfte.

Die Gottesliebe ist Maßstab, Voraussetzung und Ziel einer recht geordneten Nächstenliebe. Die unmittelbare und selbstvergessene liebende Begegnung mit Gott hat somit den Vorrang vor jeder vorwiegend selbstbezogenen oder pragmatischen Hinwedung zu Gott und vor jeder Form der Nächstenliebe. Lull hat diesen Gedanken oft Ausdruck gegeben, in besonders eindrucksvoller Weise im Liber de amico et amato. Die Ganzhingabe an Gott, ohne jede egoistische Reserve, gibt dem Leben die Mitte. [5]. Er hat den Vorrang der uneigennützigen Liebe zu Gott so klar betont, [6]. daß der Inquisitor Nicolaus Eymericus hier - allerdings zu Unrecht - sogar eine Einseitigkeit finden wollte, die der späteren Lehre Fénélon's von der "amour pur" nahekomme. [7].

Heute ist die von Lull so plastisch veranschaulichte Lehre der mittelalterlichen Theologie vom Vorrang der Gottesliebe bei einzelnen Theologen, ja sogar in einzelnen Ländern in Vergessenheit geraten; Neomodernisten wollen als sittliche Grundhaltung nur noch die soziale Liebe gelten lassen und das Christentum auf die horizontale Dimension einer philantropischen Religion reduzieren.